Heimathafen Vlotho

Erzählungen aus dem Leben einer Schiffersfrau

Helga SimonsmeierVor einigen Jahren fanden diese Geschichten ihre Leserschaft im VLOTHOER ANZEIGER und an die Autorin, Helga Simonsmeier, wurde oft herangetragen, sie gesammelt herauszugeben.

Wir denken, in unserer Dokumentationsreihe „Beiträge zur Ortsgeschichte“ diese lockeren und unterhaltsamen, manchmal auch nachdenklich stimmenden Geschichten vom Leben mit und auf der „Möwe II“ würdig zu präsentieren. Spielt sich das meiste auch nicht in Vlotho ab, vermitteln sie doch ein Bild von Menschen in der Binnenschifffahrt, wie sie hier an und von der Weser lebten, zur Ortsgeschichte gehörten und sie mit gestalteten, was im übrigen auch noch gilt. Das aufzuschreiben war wichtig für unsere Stadt mit ihrer Tradition als einzige Hafenstadt im Ravensberger Land und als „Heimathafen Vlotho“. Die Autorin beschreibt die Zeit von 1964 bis 1990, das Bildmaterial stammt ausschließlich von ihr. Die Auftaktgeschichte aus dem ersten Teil finden Sie nachstehend.

Wer mag, kann sich die fortlaufend bezifferten Inhalte der einzelnen Ausgaben binden lassen. Im letzten Heft befinden sich zusätzlich zur Erzählung Vortitel, Inhaltsverzeichnis etc.


Alle Erzählungen auf einen Blick (Stand bis Nr. 6)

Alle Erzählungen auf einen Blick Alle Erzählungen auf einen Blick Alle Erzählungen auf einen Blick Alle Erzählungen auf einen Blick Alle Erzählungen auf einen Blick Alle Erzählungen auf einen Blick

Teil 1

  • Schöne Bescherung
  • Der Bohrmaschinen-Mixer
  • Schiet und Dreck
  • Bei „Röchling“

Teil 2

  • Sturm auf dem Isselmeer
  • Nebel, Hochwasser und tausend andere Unwägbarkeiten
  • Was macht frau, wenn …
  • Die Kaffeebohnen und der Kotelettklopfer

Teil 3

  • Militärpolizei filzt Kartoffeln
  • Keinen Zollstock für den Speck und ein Flieger ohne Boden
  • Leichte und schwere Klamotten

Teil 4

  • Auf dem „Zahnfleisch“ die Weser runter
  • Die Traumschiffreise
  • Testergebnis: Brücken sind härter als Köpfe

Teil 5

  • Mis(st)geschicke
  • Kaltwasserduschen
  • O Tannenbaum, wie braun sind deine Blätter

Teil 6

  • Tiefer Fall
  • Ein Auto und gefrorenes Wasser
  • Immer diese „Steh-im-Wege“

Heimathafen Vlotho – zum Auftakt: Schöne Bescherung

Heimathafen Vlotho - zum Auftakt: Schöne Bescherung

Bild: Vlotho 1980 – „Möwe II“

Nahezu dreißig Jahre lang war ich die „aktive“ Frau eines noch „aktiveren“ Schiffers. Der war überall und ewig unterwegs, selten zu erreichen – fast nie, wenn ich ihn brauchte – nie, wenn ich ihm gern die Leviten gelesen hätte. Ich hütete die Kinder, versorgte Haus und Garten, sofern ich nicht gerade an Bord weilte, um nach dem Rechten zu sehen – d. h. mit „sehen“ allein war es nicht getan, ich musste schon handfest zupacken. Von Zeit zu Zeit schrie der Männerhaushalt direkt nach einer Generalüberholung, oder das Schiff schrie nach einem „zweiten Mann“, weil der Matrose aus irgendeinem Grund nicht zur Verfügung stand. Dann übernahm ich die Vertretung, sehr oft auch beides zusammen. Zusätzlich hütete ich auch dort die Kinder – mehr noch als an Land.Wir befanden uns ständig auf Achse – ein Pendelverkehr zwischen dem jeweiligen Liegeplatz des Schiffes und unserer „Zentrale“, dem Haus in Uffeln. Entweder besuchten wir Vater an Bord, oder ich holte ihn vom Schiff oder einem Bahnhof der näheren Umgebung für einige Stunden nach Hause. Mindestens die Hälfte meiner Zeit verbrachte ich mit „Warten“ – warten auf die „Möwe II“, warten auf verspätet eintreffende Züge oder warten auf den Telefonanruf des Scheppers, der dann mit Sicherheit nicht kam. Nix Genaues wusste man, ein modernes Zigeunerleben. Lustig ist das Zigeunerleben, nur unser „Kaiser“, der Staat, forderte von uns den „Zins“, und mein „Zigeuner“ drehte 38 Jahre lang – ohne Urlaub, ohne „krank zu feiern“ – das „Ruder“ (Steuerrad), statt mir auf der Geige vorzuspielen. Hin und wieder blies er mir den Marsch, wenn ich etwas vermurkst hatte.

Heimathafen Vlotho - zum Auftakt: Schöne BescherungBild: Die „Möwe II“ liegt in Nordenham-Großensiel auf dem Schlick (1980). Hier im Hafen habe ich als Kind gespielt – ein wunderbarer Spielplatz

Ich erinnere mich an eine amüsante – für mich peinliche – Begebenheit. Es war Ende der 60er Jahre. Wir – drei Kinder und ich – wollten die Weihnachtsferien bei Vater an Bord verbringen. Der Zug sollte uns vom damaligen Wohnort, Nordenham an der Unterweser, zum Liegeplatz der „Möwe“ nahe Minden befördern. Für drei Wochen Ferien mit drei Kindern bedarf es einiger „Ausrüstungsgegenstände“ – nicht zu vergessen, die Weihnachtsgeschenke. Da die Züge seinerzeit fast immer überfüllt waren (gerade zu Feiertagen), wir etliche Male umsteigen mussten, erschien es mir ratsam, die Koffer aufzugeben, damit wir und sie zur selben Zeit denselben Ort erreichten – was mir der freundliche Bahnbedienstete eifrig versicherte. Ich jedoch hatte erhebliche Bedenken, denn der gute Mann kannte meine Unerfahrenheit mit diesem Transportmittel nicht. Dass das Gepäck rechtzeitig in Minden eintreffen würde, glaubte ich schon – aber ob wir jemals… ?

Bild: Sturm auf dem Isselmeer (1976)Bild: Sturm auf dem Isselmeer (1976)

Einen Tag vor Heiligabend ging es los, und – oh Wunder – ich erwischte samt meiner „Anhängsel“ und Unmengen von Handgepäck die richtigen Züge. Na ja! – dass wir dann eine halbe Stunde vor Minden – dick eingehüllt in unsere Wintersachen – im warmen Abteil schwitzten und die Kinder natürlich quengelten, lag an meiner Besorgnis, wir könnten über das Ziel hinausschießen, wären wir nicht früh genug angezogen. Zum Glück erwartete der Schepper uns auf dem Bahnsteig, und ich verspürte eine große Erleichterung – und auch ein bisschen Stolz. Wir waren tatsächlich in Minden gelandet – nur leider unsere Koffer nicht – wie man uns achselzuckend am Gepäckschalter offenbarte. Selbstverständlich bekamen wir zunächst auch kein Taxi für die Weiterfahrt. Wieder einmal hieß es warten.Es hatte geschneit und war sehr kalt – vor allem nach unserem Schwitzbad im Zug. Spät abends trafen wir ohne „Siebensachen“ an Bord ein, und da stellte sich sogleich mein enormes Talent als Kofferpackerin heraus. Alles Wichtige, das wir unbedingt benötigten – wie Schlafanzüge, Hausschuhe, Schürze usw. – befanden sich in den Koffern irgendwo auf der Bahn. Dagegen hatten wir z. B. meine „gute Bluse“ für Sylvester als Handgepäck mitgeschleppt. Nun, was soll’s? Kommt man über den Hund, kommt man auch den „Steert“. Wir behalfen uns – und es ging.

Bild: Unser "NSU Prinz" steht auf der Kajüte (1971). Davor Tochter Kirsten und Sohn UlfBild: Unser „NSU Prinz“ steht auf der Kajüte (1971). Davor Tochter Kirsten und Sohn Ulf

Nachts wachte ich auf, weil es mich furchtbar fror. In der Küche stand ein Ölherd, der die ganze (kleine) Kajüte (Wohnung) heizte oder heizen sollte. Denn, als ich ihn größer stellen wollte, war er aus und nur noch mäßig warm. Ich flitzte schnell wieder ins Bett unter die warme Decke. Vater bekam einen Knuff in die Rippen: „Du musst den Öltank füllen, der Herd ist kalt!“ Und wie reagierte er? Statt aufzuspringen, palaverte er herum: „Das kann nicht sein, der Tank ist voll.“ Es bedurfte weiterer Rippenstöße, bis er sich bequemte, nachzusehen. Als erstes vernahm ich das Scheppern der Herdplatte, dann eine Verwünschung und die Frage: „Wie kann ich mir an einem kalten Herd die Finger verbrennen?“ Na wie wohl? Vermutlich war er nicht so ausgekühlt wie ich angenommen hatte. Irren ist menschlich.

Die alte "Möwe" 1959 vor der Vlothoer Zuckerfabrik Ohle & Bonnemeyer. Sie hat in Vlotho "geleichtert" und fährt jetzt nach Karlshafen. Das Steuerhausdach ist abgedeckt, damit der Schepper über das Stammholz sehen kann.Bild: Die alte „Möwe“ 1959 vor der Vlothoer Zuckerfabrik Ohle & Bonnemeyer. Sie hat in Vlotho „geleichtert“ und fährt jetzt nach Karlshafen. Das Steuerhausdach ist abgedeckt, damit der Schepper über das Stammholz sehen kann.

Das Schimpfen ging weiter: „Der Tank ist voll, die Ölzuleitung ist dicht.“ Es folgten einige unfeine Bemerkungen, anschließend stieg Vater in sein Zeug und ging nach draußen, um aus dem Maschinenraum entsprechendes Werkzeug zu holen. Um drei Uhr nachts rückte er der Ölleitung mit Hammer und Dorn zu Leibe. Dann hörte ich ihn wieder schimpfen. Was er sagte konnte ich wegen des Krachs, den er machte, nicht verstehen. Jedenfalls klappte etliche Male die Außentür, und bei jedem Öffnen drang ein Schwall eisiger Luft in die Kajüte. Ich lag schön zusammengerollt im Bett, bis – ja, bis der Spektakel erst richtig losging – und es mich nicht mehr unter der Decke hielt.Hin in die Küche und: „Himmel, noch mal, was machst du denn? Das ist doch ein Schneidbrenner oder?“ Des Scheppers geringschätziger Blick verriet mir, es war einer. Er brannte die verstopfte Ölleitung auf – um es deutlicher auszudrücken: er verteilte den noch warmen Ruß in der Kajüte! Das „Schwarz“ bedeckte im Nu alles. Ehe ich die „Verdunkelungsaktion“ auf die Küche begrenzen konnte, indem ich die Tür schloss, hatten Wohn- und Schlafzimmer ihr Teil abbekommen. Mein Tobsuchtsanfall ging im Lärm des Schneidbrenners unter. Ich zog mich an den wärmsten Ort zurück – ins reichlich angeschmuddelte Bett. Zuvor riskierte ich einen Blick auf die Kinder – doch, doch, erkennen konnte ich sie noch. Nach zwei Stunden „harter Arbeit“ krabbelte Vater zu mir in die inzwischen ausgekühlte Schlafstatt.

Bremen-Tiefer (1987) Der "Kopf" der "Möwe" ist zu sehen. Links unten hängt ein "Reibholz" - auf Seeschiffen heißen sie "Fender"Bild: Bremen-Tiefer (1987) Der „Kopf“ der „Möwe“ ist zu sehen. Links unten hängt ein „Reibholz“ – auf Seeschiffen heißen sie „Fender“

Bei Tagesanbruch wurde das ganze Ausmaß der nächtlichen Arbeitswut des Scheppers sichtbar – eine verfrühte schöne Bescherung am Heiligabend. Vaters Kommentar: entweder sauber und kalt oder schmutzig und warm, und mollig warm hatten wir es wieder. Es half nichts, Großreinemachen war angesagt. Aber wie? Sollte ich etwa in meinem lindgrünen Kostümrock und dem hübschen Pullover den Kampf mit dem Ruß aufnehmen? Es war das Beste, was ich an Bord und für die Feiertage gedacht hatte. Eine grandiose Idee schoss mir in den Kopf.Zuerst einmal schickte ich den Schepper mit den Kindern zum Bahnhof, zum Einkaufen und einen Weihnachtsbaum besorgen. Als ich freie Bahn hatte, zog ich meinen Rock auf die linke Seite – also das Futter nach außen. Mit dem Pullover machte ich es ebenso. Wenn ich mich nicht allzu ungeschickt anstellte, wäre meine Festtagskleidung gerettet – zumindest auf der rechten Seite (Nach den Ferien konnte ich die Kledage ja reinigen lassen). So ausstaffiert begann ich eilig mit der Arbeit.Schon nach kurzer Zeit hatte ich alles um mich herum vergessen – bis von Land her der laute Ruf „Möwe, Möwe“ erschallte. Sicherlich der Meister der Firma, der wegen des „Löschens“ (des Ausladens) Anweisungen geben wollte, mutmaßte ich. Kurz entschlossen stiefelte ich nach draußen und er war es, der Meister. Er benahm sich äußerst merkwürdig, stammelte herum, musterte mich von oben bis unten und umgekehrt, behandelte mich, als hätte ich einen „Schlag schräg“, als hätte ich nicht alle beisammen. Wie einem kleinen Kind erklärte er mir seine „Orders“, bat mich nachdrücklich, sie dem Schiffer auch auszurichten. Allzu lange hielt ich mich mit dem Mann nicht auf, er kam mir nicht geheuer vor, wahrscheinlich hatte er sich zum Heiligabend schon „einen genehmigt“. Außerdem war es kalt und Arbeit wartete genug auf mich.

(1985) Die "Möwe II" bei Eis und Schnee im Vlothoer HafenBild: (1985) Die „Möwe II“ bei Eis und Schnee im Vlothoer Hafen

Als meine Leute schwer bepackt mit den Einkäufen, dem Weihnachtsbaum und den Koffern (Gott sei Dank!) erschienen, bestellte ich weisungsgemäß den Auftrag des Meisters. Beiläufig erwähnte ich, dass der Mann eine komische Type sei – was Vater ungläubig den Kopf schütteln ließ. „Warst du denn so nach draußen?“ fragte er. „Das ist doch mal wieder echt Mann! Glaubst du, ich hätte mir vorher ein Abendkleid angezogen?“ polterte ich los, ob dieser dämlichen Frage. „Nee“, meinte er grinsend, „aber vielleicht hättest du Rock und Pulli auf die rechte Seite wenden sollen!“ Ach, du meine Güte! In meinem Eifer hatte ich meinen albernen Aufzug total vergessen. Kein Wunder, dass der Meister an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelte. Oh, war das peinlich! Und so oft wir später zu dieser Ladestelle fuhren, tauchte der Meister auf, tauchte ich unter, war ich sofort von der Bildfläche verschwunden. Erst viele Jahre später konnte ich über diese Geschichte schmunzeln. Übrigens: Nach einer zünftigen Schneeballschlacht fand in der sauberen, mollig warmen Kajüte die „richtige“ Bescherung statt. Es wurde ein sehr gemütliches Weihnachtsfest.