(aus: R02 – Vlotho in alten Büchern)
Mühsam windet sich der gebirgigte Weg von Herford nach Vlotho durch Wälder und an einzelnen Bauerhöfen vorüber, in stiller furchterregender Einsamkeit, bis man auf der Mitte in ein kleines ärmliches Bergdorf geräth, dessen Bewohner sich gerade in der Kirche versammelt hatten (Anm.: gemeint ist Exter). Ich trat hinein, und hörte einen Theil einer Predigt an, die den Zweck zu haben schien, die Zuhörer aufzufordern: alle ihre Sorgen auf Gott zu werfen.
Aber es war nicht der Ton, nicht die Wärme meines Lemgoischen Herrnhuters, die hier von der Kanzel tönte; kalte Dogmen, weitläufige Belehrungen, herzlose Ermahnungen. Ob diese Landleute, deren Blicke wenigstens Ruhe und Zufriedenheit mit ihrem kleinen gewohnten Glückszustande verriethen, einer solchen Predigt bedurften? Oder ist das moralische Bedürfnis der Gemeinde nicht die wahre Norm der öffentlichen Lehrvorträge?
Bild: Die Grafschaft Ravensberg im Jahre 1789
Es gibt Orte, die bei all ihrer Beschränktheit und Prachtlosigkeit dennoch einen tieferen und angenehmeren Eindruk erregen, als manche große glanzvolle Städte. Zu diesen gehört Vlotho. Von der Herforder Seite erblikt man es nicht eher, als indem man’s betritt. Eingeschlossen von hohen Gebirgen, liegt es in einem engen schattigen Thale, das nur nach der entgegengesetzten Seite eine freie Aussicht auf die hart vorüberfließende Weser und einige romantisch angrenzende Wiesen und Hügel hat.
Das Thal ist so enge, dass die Häuser auf der einen Seite am Berge liegen, und der ganze Ort besteht meist aus einer langen Gasse, von der man zur Weser hinabsteigen muß. Von dem gegenseitigen Ufer derselben gewährt das traulich anliegende Vlotho mit seinen drohend über ihm hangenden Bergen durch diesen Kontrast eine unbeschreibliche malerische Aussicht.
Bild: Auf der Weiterreise setzte Justus Gruner in Vlotho mit der Fähre auf das rechte Weserufer nach Uffeln über. Der Blick zurück dürfte mit diesem von etwa 1795 identisch gewesen sein. Das Gebäude mit der Fahne ist das alte Zollhaus.
Auch das Innere dieses kleinen Städtchens erhält den angenehmen Eindruck durch den Stempel der Wohlhabenheit, den es sichtlich an sich trägt. Es wird meistens von Leinwand- und Garnhändlern bewohnt, die zum Theil sehr vermögend sind. Auch existirt hier eine Schiffergilde, deren Glieder durch die Lage des Ortes sehr begünstigt werden.
Vlotho darf in jeder Hinsicht ein nahrhafter Ort heißen, obgleich es ihm eigentlich an Akkerbau fehlt; die Industrie und spekulative Thätigkeit der Einwohner ersezt das, und gewiß ist es einer der blühendsten Flecken in der Grafschaft Ravensberg. Wer an den stillen Reizen dieser Art Genuß findet, weile einige Tage in Vlotho. Die Eintracht und zuvorkommende Gastfreiheit der Bewohner wird auch an den kleineren Freuden der Geselligkeit keinen Mangel leiden lassen.
Quelle und Autor
Gruner, Karl Justus: Meine Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung oder Schilderung des sittlichen und bürgerlichen Zustandes Westphalens am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Friedrich Heinrich Guilhauman 1802/1803
* 28.02.1777 Osnabrück,+ 08.02.1820 Wiesbaden. Studium der Rechte und Kameralistik in Halle und Göttingen. 1799 bis 1802 Advokat in Osnabrück. anschl. im preußischen Staatsdienst. U. a. Direktor der Kriegs- und Domänenkammer Posen, Polizeipräsident Berlin, Staatsrat und Polizeichef Preußens, Gouverneur Großherzogtum Berg, anschl. des Mittelrheins. Ab 1816 preuß. Gesandter in der Schweiz.