Die erste Generation – Gustav Steinmann
(aus: „Die Orgelbauer von Wehrendorf“)
Text: Marianne Steinmann, Valdorf
Bildunterschriften: gwexter
Die Eltern
In meinen Erinnerungen an Kindheit und Elternhaus muss ich zunächst eine Generation zurückgehen und einiges aus dem Leben meiner Eltern vorausschicken, über ihre Herkunft, ihre Jugend und etliche Begebenheiten, die sie selbst dann und wann am Rande vermerkten. Aber ihr mühevoller Alltag, ihre Erlebnisse und die Geschehnisse in ihrer dörflichen Umgebung heben sich so gravierend von der heutigen Zeit ab und sind so eng mit dem Leben der Nachkommen verwoben, dass Aufzeichnungen hierüber wohl des Festhaltens wert sind.
Bild: Großeltern Steinmann mit den drei Söhnen, rechts außen Gustav
Mein Vater Gustav wurde als dritter Sohn eines Bauern in Steinbründorf geboren. Er war neun Jahre alt, als seine Mutter mit 37 Jahren an einem Herzschlag starb. Die Kinder wurden zu Verwandten und befreundeten Familien in Obhut gegeben, da wohl eine geeignete weibliche Person zur Betreuung fehlte. Mein Vater kam auf den Hof Niehage, wo er mit einem gleichaltrigen Sohn aufwuchs. Das Verhältnis muss wohl gut gewesen, denn Negatives hat er nie erwähnt. Morgens war Schulunterricht, nachmittags gehörten das Kühe hüten und das Kartoffelschälen zu seinen kleinen Pflichten. Bestürzt gemacht hat mich in jungen Jahren seine gelegentliche Bemerkung, dass die für beide Kinder angeschaffte Bekleidung vom eigenen Sohn zur Schule, vom Pflegesohn aber nur sonntags getragen werden durfte. Als weitere Zurücksetzung empfand ich es auch, nachdem beide Knaben am Sonnabend den Kutschwagen geputzt hatten, dass das eigene Kind am Sonntag zur Ausfahrt mit durfte, während der Zögling unterdessen die Kühe hüten musste.
Verwandte des Bauern Niehage war die Familie des Orgelbauers Klaßmeier, der in Kirchheide bei Lemgo eine Orgelbauerwerkstatt unterhielt. Bei gelegentlich
en Besuchen wird der aufgeweckte Knabe die Erzählungen aus dem so seltenen Orgelbauerberuf sicherlich mit größtem Interesse verfolgt haben. Der Vater hatte sich wieder verheiratet, und es wurden auch in dieser Ehe noch einige Kinder geboren. So wird der heranwachsende Jugendliche für das, was ihn im Herzen so bewegte, kein offenes Ohr gefunden haben. Wir wissen es nicht genau, vermuten aber, dass er sich nach Beendigung der Schulzeit an Ernst Klaßmeier mit seinen Zukunftsplänen gewandt hat, der ihm dann wahrscheinlich vorab eine Tischlerausbildung als beste Grundlage für den Beruf eines Orgelbauers empfohlen hat.
Bild: Haus-Orgel aus der Orgelbauwerkstatt Steinmann, gebaut in den 1950er-Jahren.
So kam mein Vater um die Jahrhundertwende zu dem Tischlermeister Fritz Freitag in die Lehre, in dessen Familie er nach alter Tradition auch aufgenommen wurde. Hier waren es wieder Verwandte, wie die Familie Stratmann, die auf sein Leben einen entscheidenden Einfluss nahmen. Die Töchter aus diesem Hause waren des öfteren zu Besuch bei Freitags, und es entspann sich eine Freundschaft zwischen den jungen Leuten, die später zur Ehe meiner Eltern führte.
Nach Abschluss der Tischlerlehre erhielt mein Vater dann die Orgelbauer-Ausbildung bei Ernst Klaßmeier. Er nahm in Kirchheide ein Zimmer und wurde wahrscheinlich im Hause Klaßmeier beköstigt. Nach Beendigung der Lehre war sein Berufsziel erreicht, jedoch sammelte er weitere Erfahrungen bei Hammer in Hannover und Paul Faust in Schwelm. Während dieser Zeit nahm er Privatunterricht zur Erweiterung seiner Allgemeinbildung und in der Musik. Manchmal erzählte er von den Opfern unter anderem durch das Anmieten eines Klaviers für zehn Goldmark im Monat. Herrn Faust musste er bei auswärtigem Montage-Einsatz am Sonntagvormittag stets über den Arbeitsverlauf der Woche Bericht erstatten.
Der Drang in die Heimat und zu seiner Jugendliebe wird dazu geführt haben, dass er zu dem Orgelbauer Ackermeier in Lage ging und dessen Teilhaber wurde. Während dieser Zeit entstand eine neue Orgel für die Schlosskapelle in Detmold, wofür ihm der Fürst den Leopold-Orden verlieh, sie existiert heute noch unverändert. Auf Dauer war die Zusammenarbeit mit Ackermeier jedoch unbefriedigend, da die Hauptarbeitslast auf den Schultern unseres Vaters lag. Aber welchen Weg einschlagen? Ein abhängiges Arbeitsverhältnis wollte er nicht gern wieder eingehen. Und die Selbständigkeit ohne jegliches Kapital schien ein schier unmögliches Unterfangen. Aber strebsam und risikobereit ist er sein Leben lang gewesen. Und so neigte er der zweiten Version zu.
Das Verhältnis zur Tochter Anna des Tischlermeisters Stratmann hatte sich zwischenzeitlich nicht nur fortgesetzt sondern auch gefestigt, so dass eine Verbindung auf Dauer beschlossene Sache war. Und da ihm das Haus Stratmann schon zu einem zweiten Elternhaus geworden war, suchte er bei Meister Stratmann Rat. Dieser war kein Mann vieler Worte. Wenn er meine, es zu können, möge er es in Gottes Namen wagen, war seine Entgegnung. So wurde der entscheidende Schritt getan; das war im Jahre 1910.
Mein Vater stand im 25. Lebensjahr und bekam den ersten Auftrag von der Evangelischen Kirchengemeinde Greven, Bezirk Münster. Die Orgel wurde in der Werkstatt des Schwiegervaters, der schon leidend war, gebaut. An dieser Stelle muss der großen Unterstützung der Schwiegereltern in Dankbarkeit gedacht werden ohne welche dieser schwere Anfang gar nicht denkbar gewesen wäre. Es fand außer dem Schwiegersohn auch noch ein Gehilfe in der Familie Aufnahme. Werkstatt, Werkzeuge und Hölzer wurden zur Verfügung gestellt. Kostenloser Lebensunterhalt war selbstverständlich.
Bilder: Wohnhaus und Werkstatt Stratmann
Als sich aber auch bald Nachwuchs einstellte, wurde es in dem kleinen Haus zu eng. Daher entschloss man sich zum Erwerb eines Grundstückes im Ort und zum Bau eines Wohn- und Werkstattgebäudes, was mit zusätzlichen Mühen und Kosten verbunden war.
Und nun zu unserer Mutter. Sie war die dritte Tochter im Hause Stratmann, resolut und von guter Gesundheit. So musste sie schon früh die anfallenden Botengänge erledigen und als größeres Mädchen Zubehör wie Beschläge beispielsweise für die Möbel, die der Vater herstellte, in einem Vlothoer Geschäft besorgen. Auch musste sie Lückenbüßerin sein für die ältere Schwester, welche die Tante aus Gelsenkirchen einmal für einige Wochen mitnehmen wollte. Schwester Johanne, gesundheitlich schwach und von Natur etwas ängstlich, war verschwunden als die Reise losgehen sollte.
In der Schule war unsere Mutter zwar nicht die erste, aber äußerst gewissenhaft. Sie konnte noch später lange Gedichte auswendig und erzählte mir als Kind vieles aus ihrer Schulzeit.
Einmal die lustige Begebenheit über Friedrich den Großen, der die Kinder, die ihm auf einem Ritt zu Pferde nachliefen, in die Schule beordern wollte. Und dann die jubelnde Entgegnung der Schüler: „Ha, der will König sein und weiß nicht mal, dass mittwochs nachmittags keine Schule ist.“ Überhaupt war ihr Interesse an Geschichte auch später noch vorhanden. Ein anderes Mal erzählte sie von dem häufigen Ausspruch ihres Lehrers, der geäußert hatte: „Wer auf dem ersten Platz sitzt, muss nicht nur etwas können, er muss auch „artig“ sein, was artig nicht im Sinne von lieb oder brav bedeutet, sondern charakterlich vorbildlich.
Als sie die Schule beendet hatte, wollte der Vater sie zur Lehrerinnen-Ausbildung in die Präparandenanstalt geben. Die Mutter aber sah wohl die Kleiderwünsche ihrer munteren Töchterschar auf sich zukommen und hielt es für sinnvoller, sie den Schneiderinnen-Beruf erlernen zu lassen. So kam sie für drei Jahre zu einer Schneidermeisterin in Vlotho und anschließend in eine Lemgoer Werkstatt zur Fortbildung.
Bild: Das 1911 bezogene alte Wohnhaus der Familie Steinmann in Wehrendorf
Sonntags ging es nach Hause. Der Weg von vierzehn Kilometer wurde bei jedem Wetter zu Fuß zurückgelegt. In dieser Zeit kam sie auf ihrem Weg auch an dem Haus vorbei, in dem mein Vater Logis bezogen hatte. Und des öfteren rief die Wirtin, wenn sie das junge Mädchen kommen sah: „Gustav, dat Luit iut’n Preuschen kümmt doher (Gustav, das Mädchen aus Preußen kommt).“
Ihre Kenntnisse und Fertigkeiten stellten sich später zwar als sehr nützlich heraus, lagen aber auf anderem Gebiet als sie zur Führung eines Haushaltes notwendig sind. Diese Fähigkeiten in der Hauswirtschaft erwarb sie sich dann in den von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel.
Das war die Situation der jungen Eheleute, als sie im Jahre 1911 ihr eigenes Haus bezogen, in dem jeder in seinem Bereich eine Fülle an Pflichten und Verantwortung auf sich nahm.