Ein ehemaliger Schüler erinnert sich
Autor: Rudi Wehmeier
Bild: Rudi Wehmeiers erster Schultag
Bei meiner Einschulung im Herbst 1942 wurden wir von dem Kommissarischen Leiter und Rektor der Schule Mindener Straße, Herrn Dr. Schmidt, begrüßt und anschließend in die einzelnen Klassen für Jungen, Mädchen und der Rest in eine gemischte Klasse eingeteilt.
Noch ahnten wir nicht, was uns bis Kriegsende noch alles erwartete. Schnell mussten wir eine andere Form der Begrüßung lernen und dabei eine stramme Haltung annehmen. Beim Schreiben durften ab sofort alle Linkshänder den Griffel nur noch mit der „schönen Hand“ benutzen.
Während der Kriegsjahre wurden die älteren Schüler und einige Lehrer zu Diensteinsätzen herangezogen, es mussten Heilkräuter und Altmaterial (Eisen, Lumpen, Knochen und Papier) gesammelt werden. Wer nicht fleißig gesammelt hatte, bekam vom Rektor persönlich heftige Prügel verabreicht. Die täglich in Turnbeuteln abgelieferten Heilkräuter wurden auf dem Schulboden von uns Schülern in Wechselschichten wochenlang gewendet, getrocknet und manche gebündelt und aufgehängt. Einige Lehrer sind in ihren Freistunden in den rüstungswichtigen Betrieben Herfords eingesetzt worden.
Bild: Schulkinder sammeln Kartoffelkäfer
Auch wir Schüler hatten manchmal Pflichtstunden bei den heimischen Bauern abzuleisten, indem wir zum Beispiel im Sommer die Kartoffelblätter von den schädlichen Käfern befreien mussten.
Durch die immer häufiger werdenden Fliegeralarme gingen wertvolle Unterrichtsstunden verloren. Wer im Umkreis der Schule einen Fußweg von nur fünf Minuten hatte, durfte bei Alarm die Schule verlassen, um nach dem Entwarnungston der Sirene wieder zu erscheinen. Alle Kinder mit weiterem Schulweg hatten sich sofort im schlecht belüfteten Luftschutzkeller der Schule mit etwa 800 bis 1000 Kindern zu versammeln.
Nach Kriegsende im April 1945 wurde unsere Schule Mindener Straße von den amerikanischen Soldaten besetzt. Der Hausmeister Siebrasse wurde seiner Dienstwohnung verwiesen und seine gesamte Wohnungseinrichtung zerstört.
Am 16. Mai 1945 übernahmen englische Besatzungstruppen die Militärregierung. Der gesamte Stadtteil Stiftberg, einschließlich der Schu-le Stiftberg, wurden zum Sperrgebiet erklärt. Wir waren aber froh, als die Strapazen des langen Schulweges von den Grenzen Falkendieks und Schwarzenmoors bis zum Alten Markt ein Ende hatten.
Nicht alle Lehrer und Lehrerinnen kamen durch die Entnazifizierungs-Prüfung wieder zu Amt und Würden. Durch den entstandenen Lehrermangel konnte eine volle Stundenzahl dann nur bei den ersten und zweiten Schulklassen gewährleistet werden.
Die Hälfte der Räumlichkeiten musste aber an die Stiftberger Schüler abgegeben werden. Die Aula und sogar die Turnhalle wurden für ein Klassenzimmer mit über 50 Schülern benötigt. Die gesamte Schülerzahl stieg auf 1400 Kinder an. Auch musste ein Schichtunterricht bis 17 bzw. 18 Uhr eingeführt werden. Diese Missstände führten einmal zu einem totalen Zusammenbruch eines Lehrers während des Unterrichts.
Da die sozialen Verhältnisse in unserem Stadtteil teilweise sehr schlecht waren, kamen einige Kinder ohne Frühstück, ohne winterfestes Schuhwerk oder ganz ohne Fußbekleidung zum Unterricht. Papierknappheit herrschte in Deutschland und selbst die Zeitungen konnten nicht täglich erscheinen. Bei unserem Schuljahr-Wechsel wurden die Bücher nur jahrgangsweise weitergegeben. Für drei vollgeschriebene Schulhefte bekamen wir ein neues Schreibheft. Die Papierqualität war aber noch sehr schlecht. Viele Holzspäne in den einzelnen Seiten verursachten beim Schreiben mit der Tintenfeder unschöne Kleckse. Ein harter Winter stand uns 1946/47 bevor. Die Schulheizung musste vom Hausmeister gedrosselt werden, um die wenigen Vorräte an Heizmaterial zu strecken. Uns Schülern wurde ab sofort erlaubt, mit Mantel oder Jacke in den Bänken Platz zunehmen.
Bild: Landarbeit in der Nachkriegszeit
Die Fensterscheiben waren noch von der vorherigen Nacht übergefroren und mit steifen Fingern haben wir dann versucht unseren Federhalter einigermaßen zu führen. Aber vom 19. Januar bis Mitte März 1947 musste der Unterricht an der Schule Mindener Straße dennoch wegen Koks- und Kohlemangels eingestellt werden.
Nach diesem Motto mussten schon wir Kinder in unseren Schulferien schwere Erntearbeit im heimischen Garten und bei vielen Bauern in Schwarzenmoor, Bischofshagen und Exter leisten. Der Tageslohn war ein halber Zentner Kartoffeln, den auch die Erwachsenen bekamen.
Viele Bauern gaben den Pferden extra die Peitsche zu spüren, damit wir mehr schaffen sollten. Die schweren Körbe mussten dann noch hoch auf den Kastenwagen geschüttet werden. Abends fielen wir todmüde ins Bett und verspürten unsere Tagesleistung in den Knien und im Rücken. » Schlange stehen« hieß es am 24. Juni 1948 wenige Tage nach der Währungsreform. Für je 10 Reichsmark erhielten wir im Umtausch eine Deutsche Mark gutgeschrieben. Das berühmte &rquote;Kopfgeld&lquote; von DM 40 wurde vier Tage zuvor, am 20. Juni 1948, ausgezahlt. Für die Eltern wurde ein Wechsel von uns Kindern zu einer höheren Schule sehr bedenklich. Mehrere Kinder, Schulgeld und eine kleine Witwenrente führten schnell zu einem Finanzproblem. Das Wort Kindergeld war damals noch ein Fremdwort.
Viele Flüchtlingskinder waren ab 1945 in unserem Stadtteil ansässig geworden, dadurch war auch 1948 die hohe Schülerzahl von 1115 Kindern an unserer Schule Mindener Straße zu erklären. Wir wurden in 26 Klassen mit jeweils über 40 Kindern unterrichtet. Ab 1948 wurde auch an unserer Schule zusätzlich das Unterrichtsfach Englisch angeboten. Nur Schüler mit guten Deutschnoten konnten sich für die freiwillige Teilnahme melden. Der Unterricht fand dreimal in der Woche je eine Stunde vor oder nach dem eigentlichen Unterricht statt.
Bild: Niederwalddenkmal bei Rüdesheim am Rhein
Erstmals wurde 1949 auch eine Klassenfahrt angeboten. Eine mehrtägige Fahrradtour ins Weserbergland war geplant. Über 40 Fahrräder mussten besorgt werden und dann wurden sie bepackt mit Zeltplanen, Decken, Kleidung, Kochgeschirr und Quäkerspeise. Für unseren damaligen Klassenlehrer Herr Dietrich eine große verantwortungsvolle Aufgabe, die für heutige Verkehrsverhältnisse undenkbar erscheinen muss. Eine zweite Klassenfahrt wurde 1950 mit den Mädchen der Klasse von Fräulein Rustige, diesmal mit zwei Bussen, zum Rhein durchgeführt. Ziele waren unter anderem das Deutsche Eck, die Loreley und der Drachenfels.
Bei der 1951 anstehenden Schulentlassungsfeier gab es für viele Kinder Kleidungsprobleme. Ich habe zum Beispiel eine neue Uniformjacke aus einem Wehrmachtsdepot der Luftwaffe getragen. Das Fliegeremblem wurde vorher abgetrennt.
Nur mit viel Einsatz und Pflichtbewusstsein war es der damaligen Lehrerschaft möglich, uns Kindern nach dem ganzen Kriegswirrwarr mit vielen Unterrichts-Ausfallzeiten, noch einigermaßen gute Noten mit auf den Weg ins Berufsleben zu geben.
Bild: Vor den Häusern Mindener Straße Nr. 132 (Brandt) und Nr. 134 (Süllwald). Das Foto zeigt rechts Herrn Heinrich Busse, geboren 1903, Mitbegründer des Fußballabteilung von VfL von 1919 im Turnverein Jahn Herford, seit 1966 Ehrenmitglied von VfL Herford.